Der Baienfurter Klangstein – Denkmal zum Gedenken an die zehn NS-Opfer in Baienfurt
Das Denkmal: Entstehung und Konzeption
Nachdem die SPD-Fraktionsvorsitzende Brigitta Wölk von Gerhard Schweizer, einem ehemaligen Mitarbeiter der Stiftung Liebenau, auf drei Baienfurter "Euthanasie"-Opfer aus der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Liebenau hingewiesen worden war, kündigte sie im Gemeinderat im März 2013 weitere Nachforschungen an und regte im Namen der SPD-Fraktion an, zum Gedenken an diese Opfer der NS-Zeit Stolpersteine legen zu lassen. Auf Grund weiterer Recherchen von Uwe Hertrampf und Brigitta Wölk zum Heimatbuch, die insgesamt zehn Baienfurter NS-Opfer ergaben, und auf Grund eines Entwurfs des durch seine Werke zur Erinnerungskultur bekannten, aus Baienfurt stammenden Künstlers Andreas Knitz beschloss der Gemeinderat im März 2017, diesen Künstler mit einem zentralen Denkmal für alle zehn NS-Opfer auf dem Marktplatz in Form eines Klangsteins zu betrauen.
Im September 2017 folgte der Beschluss des Gemeinderats, diesen Klangstein vor dem Rathaus zu platzieren und auf Stolpersteine zugunsten einer erläuternder Bronzeplatte mit den Namen der Opfer auf dem Boden neben dem Klangstein zu verzichten.
Der Künstler Andreas Knitz formte nach einem aus der Ach als Zeitzeugen entnommenen Flussstein einen Klangkörper, der nach seinem Guss in Bronze als interaktiver Klangstein den Betrachter dazu auffordert, ihn zum Klingen zu bringen. Auf diese Weise soll den Opfern der damaligen Gewaltherrschaft eine Stimme wiedergegeben werden, die uns alle heute mahnt, wachsam zu sein.
Unser Auftrag
Aus diesem Erinnern ergibt sich ein Auftrag. Er sagt uns: Schützt und bewahrt die Rechte eines jeden Menschen. ( Bundespräsident Joachim Gauck am 27. Januar 2015 )
Die Gemeinde Baienfurt will durch die Errichtung des Denkmals die Opfer ehren, ihnen einen Platz in der Gemeinde zurückgeben und dadurch einen Beitrag zur Aussöhnung leisten. Durch die Erinnerung an die unmenschlichen Zustände, unter denen diese Menschen damals zu Tode kamen, wollen die Menschen und Politiker der Gemeinde zeigen, dass sie sich in ihrem Denken und Handeln der Menschenwürde, der Achtung menschlichen Lebens, der Freiheit, der Gleichheit und der Toleranz verpflichtet fühlen.
Wir alle sollten heute uns immer wieder Gedanken machen, was diese Begriffe für unser heutiges Verhalten bedeuten.
Die Biographien der zehn NS-Opfer
Opfer der Aktion „Arbeitsscheu Reich“: Fidel Müller
Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ basierte auf einem Erlass des Innenministeriums vom 14. Dezember 1937, durch den die Kriminalpolizei weitgehende Möglichkeiten bekam, auch „Arbeitsscheue“ zu inhaftieren Der Hintergrund bestand darin, dass die straffe Durchführung des Vierjahresplans den Einsatz aller arbeitsfähigen Kräfte erforderte und ein abschreckender Effekt auf „Arbeitsbummelanten“ erreicht werden sollte.
Fidel Müller, geb. 20.8.1913, wohnhaft in der Schillerstraße, war – nach Urteil des Schularztes 1926 – „in der körperlichen, besonders aber in der geistigen Entwicklung stark zurückgeblieben“ und hatte mit 13 Jahren die Schule als nicht schulfähig verlassen Von 1926 bis 1935 arbeitete er beim Forstamt, ab 1937 verrichtete er als Hilfsarbeiter Gelegenheitsarbeiten. 1938 meldete ihn Bürgermeister Lacher – auf Anfrage des Landrats – als „arbeitsscheu“, weil er trotz körperlicher Voraussetzungen sich nicht bemühe, eine dauerhafte Arbeitsstelle anzunehmen und ständig nach wenigen Tagen eine Arbeitsstelle verlasse. Daraufhin verfügte der Landrat am 11. April 1938 die Einweisung in das Beschäftigungs- und Bewahrungsheim Buttenhausen bei Münsingen für ein Jahr.
Müller entfernte sich vom 5. bis 8. Juni unerlaubt vom Heim. Sein Unglück war, dass im fernen Berlin Heydrich, der Leiter des Sicherheitshauptamtes, am 1. Juni eine Verschärfung der Aktion anmahnte. Am ersten Tag dieser sogenannten „Juni-Aktion“, am 13. Juni, wurde Fidel Müller im Heim von der Gestapo verhaftet und in das Amtsgerichtsgefängnis nach Münsingen gebracht. Von dort erfolgte am 27. Juni seine Einweisung in das Konzentrationslager Dachau, wo er in der Kategorie „Arbeitszwang“ geführt wurde. Am 21. März 1939 wurde er in das gefürchtete Konzentrationslager Mauthausen überführt, wo er – als „AZR“-Häftling („Arbeitszwang Reich“) kategorisiert – einen schwarzen Winkel tragen musste. In diesem als Todeslager berüchtigten KZ starb Fidel Müller mit 25 Jahren am 11. April 1939, genau ein Jahr nach dem Erlass des Landrats in Ravensburg – angeblich an Lungenentzündung. Fidel Müllers Leichnam wurde am 17. April im Krematorium in Steyr eingeäschert, seine Urne auf Antrag seiner Geschwister nach Baienfurt geschickt.
Quellen:
Archiv des Landkreises Ravensburg 3.1. - Bü 286
Gemeindearchiv Baienfurt, Bü 404
Mitteilungen der KZ-Gedenkstätte Dachau und des Archivs der KZ-Gedenkstätte Mauthausen
Sechs Opfer der „Euthanasie-Aktion T4“
Konrad Geng, geb. am 24.11.1911, wohnte in der Schillerstraße 8. Im Kleinkindalter war er an Rachitis erkrankt und deshalb hör- und sprachgeschädigt. Er neigte zu Tobsuchtsanfällen. Mit 17 Jahren arbeitete der „geistesschwache“, aber körperlich starke und arbeitswillige Konrad in der Gemeindekiesgrube. 1934 wurde er zwangssterilisiert, obwohl er keine Erbkrankheit hatte. Vier Mal wurde er in die Heilanstalt Weißenau eingeliefert, das erste Mal am 12.10.1936. Immer wieder holten ihn seine Eltern nach Hause, so z. B. am 2. September 1937 – „gegen ärztlichen Rat“ und „ungeheilt“. Das letzte Mal brachte man ihn am 4.8.1938 nach Weißenau. Am 27. Mai 1940 wurde er im Rahmen der T4-Aktion in einem der berüchtigten grauen Busse zusammen mit 71 anderen Patienten aus Weißenau nach Grafeneck gebracht und dort am selben Tag durch Gas ermordet. Zur Vertuschung der Ermordung wurde ein falsches Todesdatum und eine natürliche Todesursache angegeben. Konrad Geng starb im Alter von 28 Jahren. Die Urne mit den sterblichen Überresten wurde der Gemeinde zur Beisetzung auf dem örtlichen Friedhof zugeschickt.
Zusammen mit Konrad Geng wurde der Baienfurter Bauunternehmer Severin Fiderer in Grafeneck umgebracht. Er war 1884 in Baienfurt geboren worden und musste gleich im August 1914 in den 1. Weltkrieg einrücken. Im Oktober 1915 erlitt er einen Bauchschuss. Nach Operation und Genesung zog er wieder in den Krieg. Die Kriegserlebnisse traumatisierten ihn. Er schrieb selber: „…während meines Heimaturlaubes im März 1916 habe ich gespürt, dass etwas mit mir nicht mehr in Ordnung ist … Ich höre Stimmen … und sehe nachts Bilder“. Im April 1916 wurde Fiderer mit der Diagnose einer beginnenden Geisteskrankheit in die Heilanstalt Weißenau aufgenommen. Die Vermerke in seiner Krankenakte wurden mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus immer negativer. Severin Fiderer starb im Alter von 55 Jahren in der Gaskammer in Grafeneck. Seine im Dienst für „Volk und Vaterland“ erlittene psychische Erkrankung wurde zur Ursache für seine Ermordung.
Außer Konrad Geng und Severin Fiderer wurden weitere 4 Personen aus Baienfurt in Grafeneck im Rahmen der T4-Aktion im Laufe des Jahres 1940 ermordet. Sie waren Patienten der Heilanstalt Liebenau. Die Schwestern Margarethe und Theresia Thoma hatten in der Schacherstraße 2 gewohnt. Sie wurden 1931 bzw. 1935 – beide mit der Diagnose „Schizophrenie“ – in Liebenau aufgenommen. Theresia wurde in Grafeneck am 30. August 1940 im Alter von 37 Jahren, Margarethe am 24. September 1940 im Alter von 52 Jahren durch Gas ermordet. Am selben Tag wie Margarethe Thoma starb auch Rosina Schad, Tochter der Familie Schad, die im Wasserschloss (Papierfabrik 22) wohnte. Sie kam 1927 – auch wegen Schizophrenie – mit 25 Jahren nach Liebenau und starb im Alter von 38 Jahren in Grafeneck. Karl Friedrich Nessler kam als jüngster der Baienfurter in Grafeneck um – am 8.11.1940 im Alter von 20 Jahren. Er hatte in der Römerstraße 42 gewohnt und war mit der Diagnose Littlesche Krankheit nach Liebenau gekommen. Insgesamt sind also 6 Baienfurter in Grafeneck ermordet worden – 6 von 10.654 kranken und behinderten Menschen, die in Grafeneck ihr Leben lassen mussten.
Quellen:
Krankenakten für Konrad Geng und Severin Fiderer im Bundesarchiv Berlin (A 37071, R 179/24382; A 37080, R 179/24273)
Gemeinderatsprotokolle in Baienfurt 1928 – 1929;
Gemeindearchiv Baienfurt Büschel 427
Literatur:
Josef H Friedel: gegen das Vergessen Teil II: Die Euthanasieopfer Meckenbeuren 2009
Tod des italienischen Militärinternierten ( IMI ) Michele Pisani
Im Jahr 1944 leisteten viele Italiener als Militärinternierte Zwangsarbeit in der Eisengießerei Meteor, wo sie nicht gut behandelt wurden. Unter ihnen war auch der 25-jährige Michele Pisani. Er scheint die Arbeit nicht ausgehalten zu haben. Wegen „Auflehnung“ bekam er 14 Tage verschärften Arrest im Baienfurter Ortsarrest (wo sich heute der neue Fußgängerweg entlang der Ach in der Nähe des das Hauses Ravensburger Str. 8/1 befindet). Dort wurde er – laut einer dürren Meldung, vermutlich des wachhabenden Soldaten oder dessen Vorgesetzten – am 19. Mai 1944 um etwa 21 Uhr 55 Minuten erschossen. Zur Begründung heißt es in der Meldung, dass er „bereits in der Nacht vom 18. zum 19. Mai 1944 einen Ausbruchsversuch aus dem Ortsarrest vorbereitet (habe), indem er mehrere Steine aus der Zwischenwand zur Nachbarzelle herausbrach“.
Diese wenigen Worte lassen viele Fragen offen, weisen aber darauf hin, dass sich im Ortsarrest damals ein Drama abgespielt haben muss. Die Staatsanwaltschaft genehmigte ohne eine Leichenbesichtigung die Beerdigung. Die Wehrmacht bestattete die Leiche auf dem Friedhof in Baienfurt am 23. Mai 1944 um 5.30 Uhr morgens. Die Baienfurter Bevölkerung sollte davon wohl nichts mitbekommen.
Quelle: Gemeindearchiv Baienfurt: Bü 504a
Opfer wegen „Rassenschande“: Elisabeth Herrmann und Sophie Maucher
Auf den Bauernhöfen Baienfurts, vor allem in Köpfingen, kamen sich während des Krieges junge Bauerntöchter und junge polnische Zwangsarbeiter bei der gemeinsamen Arbeit und dem gemeinsamen Wohnen auf den Höfen näher. Es kam zu Freundschaften und auch zu intimen Beziehungen. Diese waren streng verboten und wurden hart bestraft, weil sie gegen das Gebot der „Reinhaltung deutschen Bluts“ verstießen.
Eines der Mädchen aus Köpfingen machte aus der Beziehung zu einem jungen Polen kein Geheimnis und berichtete einer Freundin in Weingarten von ihrer Schwangerschaft und von einem Abtreibungsversuch. Die Freundin erzählte das weiter, was zu einer anonymen Anzeige an die Gestapo Friedrichshafen führte. Auf Grund dieser Anzeige wurden im April 1944 zuerst der 23-jährige Pole und bald darauf weitere – durch dessen Aussagen mit dem Vorwurf des Geschlechtsverkehrs mit Köpfinger Mädchen belastete – fünf polnische Zwangsarbeiter aus Baienfurt und Baindt verhaftet. Deren Verhöre führten zur Festnahme von 4 jungen Frauen aus Köpfingen.
Drei von ihnen kamen in ein KZ, aus dem zwei – auf Fürsprache der Kreisbauernschaft – bis Ende März 1945 wieder entlassen wurden. Elisabeth Herrmann, die ein uneheliches Kind im Alter von 4 Jahren hatte, kam im Verlauf des Jahres 1944 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, wo sie im Wald arbeiten musste.
Dorthin hatte die Gestapo auch Sophie Maucher aus Kickach gebracht, die am 20. April 1944 – ebenfalls wegen des Vorwurfs intimer Beziehungen zu einem polnischen Landarbeiter – verhaftet worden war. Elisabeth Herrmann wurde trotz mehrfacher Eingaben der Kreisbauernschaft nicht freigelassen, genauso wenig wie Sofie Maucher. Die beiden jungen Frauen blieben nach dem Krieg vermisst. Sie sind in Ravensbrück oder dem Neben- und Vernichtungslager Uckermarck umgekommen. Sofie Maucher und Elisabeth Herrmann waren 22 Jahre alt, als sie der wahnsinnigen Rassenideologie der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.
Quellen:
Gemeindearchiv
Nachlass Elisabeth Herrmann
Klangstein
Baienfurt gedenkt der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft.
Was verschwiegen und verheimlicht wurde, soll nun hörbar werden und zur Sprache kommen.
Ein Stein des Anstoßes.
Ein klingendes Denkmal vor dem Rathaus in Baienfurt.
Kunst als Sprache.
Kunst als Form der Sprache.
Kunst als Rahmen für Sprache
Guss des Klangsteins am 27. Juli 2017 in Innsbruck: Video des Gusses